Sommerferien mal anders… Ein Erfahrungsbericht aus Indien

 

Liebe Leserinnen und Leser,

ich würde mich Ihnen zunächst gerne vorstellen. Mein Name ist David Vienken, ich bin achtzehn Jahre alt und Schüler des St. Ursula Gymnasiums in Dorsten.

Im Rahmen eines eingetragenem Spendervereins (FAMILIA Bottrop e.V.) unterstützt meine Familie seit vielen Jahren ein Kinderheim in Indien, das ich in den Sommerferien 2016 das erste Mal besucht habe. Von meinen Erfahrungen, die ich dort sammeln durfte, würde ich Ihnen gerne berichten.

Als meine Familie fragte, ob ich nach Indien wolle, um dort ein Kinderheim zu besuchen, lehnte ich sofort ab. Ich hatte zwar durch Erzählungen von FAMILIA gehört, aber selbst dort hinfliegen? Mir schossen sofort Bilder von wenig ansprechenden Badezimmern und Küchen durch den Kopf. Bilder von Bettlern, Rikschas und Ungeziefer, dazu die erdrückende Hitze und der Hunger. Sollte ich mich dort vom Schulstress erholen? Aber ich flog … und sollte viel Wichtigeres, viel Wertvolleres als Erholung erleben.

Ich stieg aus dem luxuriösen Flugzeug aus, der zur Zeit größten Boeing, und nach einigem Stress und einigen Schwierigkeiten beim Auschecken tat ich meinen ersten Schritt raus aus dem klimatisierten Flughafen in ein fremdes Land. Ich war in Indien angekommen. Doch war ich das wirklich? Eine Hitzewelle schlug mir entgegen; jene Hitze sollte sich während der zweistündigen Autofahrt- zu zehnt in einem Auto, das regulär für sechs war -ohne Klimaanlage- durch den stockenden, chaotischen Verkehr Indiens nicht legen, besonders nicht bei Stau.

Ich fuhr durch erschreckend armselige Gebiete – Müllberge, umher streunende Tiere, unter Brücken lebende Familien und dieser Übelkeit erregende Gestank, der die Luft verpestete und sich auf meiner Zunge niederließ. Ich drückte mich tiefer in meinen Sitz, um die Augen vor der Armut zu verschließen, doch die Armut drang über alle Sinne zu mir durch. Ich sah, schmeckte und roch die Armut nicht nur, ich hörte sie auch: schreiende Kinder und klagende Mütter. Doch selbst, als ich versuchte, die Armut auszublenden, klopfte sie an die Fensterscheiben – in Lumpen gekleidete, abgemagerte Mütter mit ebenso abgemagerten nackten Babys schauten mich flehentlich aus diesen leeren, stumpfen Augen an, aus denen schon längst die Freude gewichen war, die sich gar nicht an ihr letztes Lächeln erinnerten. Manche lagen auch einfach nur bewegungslos auf der Straße und hatten den Kampf längst aufgegeben. Mit aller Willenskraft versuchte ich, die Bettler zu ignorieren, aber das konnte ich nicht. Diese Augen zogen mich in ihren Bann. Mit welcher Rechtfertigung konnte ich sie ignorieren und ihnen nichts geben. Ich wurde mir der kulturellen Zufälligkeit bewusst – Ich könnte ebenfalls dort klopfen, während die Bettler mich ignorieren.

Nach zahlreich gefühlten Herzstillständen, verursacht durch den chaotischen Verkehr,  war ich schließlich angekommen. Der Wagen hielt vor einem Tor -,,Familia – Dare and Hope“ (zu Deutsch: ,,FAMILIA – Wage und Hoffe“), stand in verblichenen Lettern auf einem Schild. Das Tor wurde geöffnet. ,,Welcome to Familia.“, so der Fahrer. Gebäude, die schon bessere Tage gesehen hatten, Ungeziefer, matschiger Boden und Kinder in zerschlissener Kleidung, an denen mir jedoch irgendetwas merkwürdig erschien, was ich allerdings nicht ausmachen konnte.

Ich stieg aus und wurde in das Haupthaus geleitet, wo ich herzlichst empfangen wurde, als sei ich schon immer ein Teil der Familie gewesen. Ich schaute mich um: Geckos an den Wänden, staubiger Steinboden, 5 Plastikstühle, ein wackliger Holztisch und ein paar Fotos an den Wänden, sonst nichts.

Die Müdigkeit, der Hunger, die Hitze, meine schweißnasse Kleidung, die mir am Körper klebte, die Armut – alles erdrückte mich. Ich hatte Angst, ich fühlte mich unwohl und unsicher. ,,Ich möchte einfach nur nach Hause“ – so habe ich es auf die erste Seite meines Tagebuchs mit drei großen Ausrufezeichen geschrieben.

Ich ließ mich schließlich ins Bett fallen – schlechte Idee! Ein dumpfes Geräusch, Schmerzen im Rücken und die definitive Erkenntnis, dass das keine Federn waren, in die ich mich hatte fallen lassen, sondern ein Holzbrett. Und so endete mein erster Tag in Indien.

Beim Frühstück am nächsten Morgen um 7.30 Uhr setzte ich mich an den Tisch zu meiner Familie und K. C. Thomas, dem wunderbaren Leiter von FAMILIA. Die anderen Bewohner des Hauses – Jungen und Mädchen verschiedenen Alters – saßen auf dem Boden und aßen mit den Händen. Noch immer erschien mir etwas an diesen Menschen merkwürdig, doch ich konnte es nicht erklären.

Ich versuchte angestrengt die Gespräche in Englisch mit hartem Akzent zu verfolgen. Am meisten Mühe kostete es mich jedoch so zu tun, als schmecke mir das Essen, denn das tat es definitiv nicht: morgens Curry, Reis mit Dull-Soße, mittags Curry, manchmal Gemüse, Reis mit Dull-Soße, abends Curry, Reis mit Dull-Soße.

Ich besuchte die anderen Häuser, wo ich ebenfalls herzlichst in Empfang genommen wurde, und ging über den Rasen, wo viele Kinder wild umher tobten und zum ersten Mal entwich mir ein Lächeln. Als ich sie beobachtete, wurde mir schlagartig bewusst, was mir an ihnen so suspekt vorgekommen war – es war ihr Lachen. Ihr wundervolles, helles aufrichtiges und ehrliches Lachen. Ich war völlig perplex. Die Freude der Kinder schien mir so sehr im Kontrast, fast widernatürlich zu ihrer zerschlissen Kleidung, ihren bloßen Füßen auf der staubigen Erde. Und doch lachten sie. Lachten, als würden sie der Armut trotzen und sie so verjagen wollen.

Doch mir wurde klar, dass diese Kinder nichts weg zu lachen brauchten. Sie kennen das Leben nicht anders, sie lachten einfach, weil sie glücklich waren, weil sie Spaß am Leben hatten, wie die Kinder in Deutschland auch. Nur dass dieses Lachen viel aufrichtiger klang, als ich je eines gehört hatte. Es kam direkt von Herzen.

Doch warum rumstehen und die Kinder anstarren? Ich rannte zu ihnen, tobte mit ihnen und spielte mit ihnen Basketball und Fußball – mit etwas, was vermutlich mal ein Ball gewesen sein musste.

Ich konnte mich an das Gefühl vom vorigen Abend – das Unwohlsein und die Angst – nicht wirklich mehr erinnern.

Nein, ich habe sogar mit gelacht, die Freude schien auf mich überzuspringen.

Anschließend ging ich unter die eiskalte ,,Dusche“, die auch meine Duschpartner- zahlreiche Insekten, ebenfalls sehr genossen.

An den folgenden Tagen besuchte ich ,,Familia School“, wo ich mit wundervollen Tänzen, tollen Gesängen, strahlendem Lächeln und funkelnden Augen von den Schüler/-innen und Lehrer/-innen begrüßt wurde. Unglaublich – obwohl ich diese Menschen nicht kannte, genauso wenig wie sie mich, wurde mir solch eine Wärme entgegen gebracht.

Ich stellte mir vor, wie ausländische Besucher an einer deutschen Schule begrüßt worden wären – auf jeden Fall nicht mit einer Durchsage, die zum Aufstellen auf dem Schulhof rief, sowie mit Reden, weiteren Tänzen und Liedern – wunderschön!

Ich besuchte viele andere unterschiedliche Orte – das Sterbehaus der nun heiligen Mutter Theresa, zwielichtige Gegenden, die sich als Märkte und Shoppingcenter herausstellten, das beeindruckende Taj Mahal, etc.

All das war unglaublich traurig bzw. toll, aber nicht halb so schön wie FAMILIA.

Was war aus meinem Unwohlsein und meiner Angst geworden? Ich musste sie irgendwo zwischen den strahlenden Augen der Kinder und deren ansteckendem Lachen verloren haben.

Diese Menschlichkeit, die sich mir dort neu definierte, erinnert mich an ein Zitat aus Goethes Faust, den ich gerade behandle:,,Hier bin ich Mensch, hier darf ich´s sein.“

Denn genau so war es. Ich durfte sein, wie ich wollte, ich durfte einfach Ich sein und wurde   aufgenommen, akzeptiert und sogar dafür gemocht, wie ich war.

Die Tage vergingen.

Nach einem weiteren Tag voller Freude, Getobe und Sport, sowie bescheidenen Hilfen beim Kochen saß ich auf der Terrasse, blickte in den klaren Himmel und beobachtete die Sterne. ,,Verweile doch, du bist so schön“. Ich war einfach nur glücklich. Ich kannte zwar die Begriffe Freude, Wärme und Liebe, und glaubte auch zu wissen, was sie aussagen, aber erst bei FAMILIA wurde mit klar, was diese Worte, vor allem Liebe bedeuten.

Liebe bedeutet, jeden Morgen mit einem Lächeln auf den Lippen aufzuwachen, Liebe bedeutet sich den nächsten Tag herbei zu sehnen und dem vergangenen hinterher zu trauern. Liebe bedeutet innige Umarmungen, aus denen man sich nicht lösen möchte, Liebe bedeutet, Heimweh, Liebe bedeutet Tränen in den Augen, und Liebe bedeutet Schmerz. Denn diese hatte ich, hatten wir alle in unseren Augen, und den Schmerz spüre ich noch heute, wenn ich mich an unseren Abschied erinnere, bei dem wir uns alle einzeln und später alle zusammen in den Armen lagen und weinten, weil uns 6.751,86 Kilometer und 12 Stunden trennen würden.

Es war die schönste Zeit meines Lebens. Seit der Reise ist mir klar, dass ich diesen Menschen helfen werde, mit diesem Bericht angefangen. Es ist unmöglich, alles Erlebte und Gefühlte zu übermitteln, gerade bei begrenztem Platz, doch ich hoffe, dass ich einen ersten Eindruck von Indien und FAMILIA ermöglichen konnte.

Für Fragen, Anmerkungen oder weiterem Interesse stehe ich gerne privat oder per e-mail zur Verfügung (davidvienken12@gmail.com).

Alles Gute wünscht Ihnen

David Vienken

Anmerkung der Redaktion:
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Christoph Wagener (02045-414214)

FAMILIA Bottrop e.V.

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