Interview

„Anke, kannst du mich mal zwicken – es kommt wir wie ein Traum vor – eröffnen wir wirklich ein richtiges Museum?“

Interview über die Forschungsgruppe „Dorsten unterm Hakenkreuz“ mit Elisabeth Cosanne-Schulte-Huxel und Anke Klapsing-Reich

  1. Wie kam es zur Gründung?

Zunächst gab es den Zusammenschluss der Forschungsgruppe. 

Im November 1982 erschien ein Artikel in der Dorstener Zeitung, der auch an die jüdischen Bürger erinnerte. In den folgenden Leserbriefen wurde nach den verbliebenen Dorstener Juden gefragt. Zeitungsaufrufe baten um Berichte, Fotomaterial und Zeitzeugen.  Zirka 15 Personen gründeten einen Arbeitskreis zur Erforschung der jüdischen Gemeinde in Dorsten. Dieser Personenkreis änderte sich im Laufe der Zeit. 

Wir haben geforscht und recherchiert in vielen Archiven und Bibliotheken, z.B. in Dorsten, Münster, Duisburg, Detmold, Düsseldorf, New York, Jerusalem usw., wir haben Interviews mit Zeitzeugen geführt, alte Handschriften übersetzte, Dokumente, Exponate und andere Materialien zu einem großen Puzzle zusammengetragen.

Die Forschungsergebnisse wurden in mehreren Büchern veröffentlich: Das erste Buch „Dorsten unterm Hakenkreuz – die Jüdische Gemeinde“ erschien im Mai 1983. Weitere folgten:  die „Weimarer Zeit“, die „Kirchen zwischen Anpassung und Widerstand“, der „gleichgeschaltete Alltag“, die „Entnazifizierung und Wiedergutmachung“ und dann noch einmal 1988 die „Geschichte der Juden in Dorsten von ihren Anfängen in Westfalen“. Bis zur Eröffnung des Museums erschienen 5 Bände.  Aber auch viele Vorträge in Schulen wurden gehalten, Ausstellungen konzipiert und vieles mehr.

Der harte Kern der Forschungsgruppe 1988 – Sr. Johanna Eichmann, Christel Winkel, Anke Klapsing-Reich, Wolf und Brigitte Stegemann, Elisabeth Cosanne-Schulte-Huxel – wollte nicht nur über die Geschichte der Juden forschen, sondern über den Reichtum der jüdischen Religion und den Kultus die Öffentlichkeit informieren. Wir wollten die Geschichte der Juden in Dorsten aufzeigen, sie dokumentieren und für nachfolgende Generationen festhalten.

Der Arbeitskreis lag damals voll im Bundestrend. Das Gedenken zum 50. Jahrestag der sogenannten Machtergreifung Hitlers (1983) hatte das Interesse an der Frage „Wie ist das damals eigentlich in unserer Stadt gelaufen“ geschürt. Wir waren mit Feuereifer bei der Sache. 

Aus der Betroffenheit darüber, dass sich die Spuren der einst blühenden jüdischen Gemeinden im Kreis Recklinghausen mehr und mehr verwischen – daraus entstand die Idee einen Trägerverein zu gründen. 1987 haben wir unsere gemeinsame Idee, die Errichtung eines Dokumentationszentrums für jüdische Geschichte und Religion den Vertretern der Stadt vorgestellt. Der Vorschlag fand uneingeschränkte Zustimmung. Wir suchten gemeinsam mit der Stadt ein geeignetes Gebäude und schließlich wurde die Jugendstilvilla am Südwall gefunden. Es gab Zuschüsse für die Sanierung, Unterstützung der NRW-Stiftung, Landschaftsverband Westfalen-Lippe, Stadt Dorsten und dem Westfälischen Museumsamt Münster. Der damalige Leiter hatte die Idee die neu zu errichtende Institution nicht „Dokumentationszentrum“ zu nennen sondern „Jüdisches Museum Westfalen“, weil es bis dahin kein ähnliches Projekt zur Darstellung jüdischen Lebens in Westfalen gab.

Um die Arbeit der Forschungsgruppe in Dorsten bzw. in Westfalen und darüber hinaus zu verankern, wurde im November 1987 der Trägerverein „Dokumentationszentrum für jüdische Geschichte und Religion in der früheren Synagogenhauptgemeinde Dorsten e.V. „ mit rund 20 Personen gegründet. An der Gründungsversammlung waren Vertreter der Städte Dorsten und Gladbeck, des Kreises, der Parteien, der jüdischen Gemeinde Recklinghausen beteiligt. 

Dieser Trägerverein wurde später umbenannt und ist heute der „Verein für jüdische Geschichte und Religion e.V.“  Dieser Verein mit seinen rund 400-500 Mitgliedern betreibt das Jüdische Museum Westfalen,  veröffentlicht eigene Schriften, organisiert Forschungs- und Bildungsarbeit , beschafft Gelder für das Museum und vieles mehr. 

Nach einer Planungs- und Umbauzeit von fünf Jahren wurde das „Jüdische Museum Westfalen“ am 28. Juni 1992 durch den damaligen Ministerpräsidenten Dr. Johannes Rau eröffnet.

Wir können in diesem Jahr das 30jährige Jubiläum feiern.

  • Wie war die Atmosphäre/ das Gefühl, als die Arbeit anfing und im Laufe derer?

Am Anfang der Forschungsgruppe war es ein sehr harmonisches Miteinander. Wir forschten und freuten uns immer wieder über neue Ergebnisse.  Es war einfach eine spannende Zeit der neuen Entdeckungen. Ich bin heute immer noch wieder erstaunt, wieviel man heute durch Internet und Öffnung der Archive wieder entdecken kann.

  • Hatten Sie das Gefühl, dass Sie grade etwas Großes starten, das zu etwas so Langwierigem führt wie den Jüdischen Museum?

Wir waren euphorisch, als unser Traum von einem Museum immer mehr Wirklichkeit zu werden schien. Wir haben unglaublich viel Zeit und Energie investiert. Haben uns oft abends getroffen, tagelange Archivarbeit gemacht und Verhandlungen mit der Stadt geführt, sind nicht immer nur auf positive Resonanz gestoßen.

Dann kam der Tag der Museumseröffnung: Wir konnten es kaum glauben, dass wir es geschafft haben. Gerne erinnern wir uns daran, wie wir im Vorfeld der Museumseröffnung Pokale putzend vor den Vitrinen standen und Christel Winkel fragte: „Anke, kannst du mich mal zwicken – es kommt wir wie ein Traum vor – eröffnen wir wirklich ein richtiges Museum?“

Es war eine unheimlich aufregende, spannende, aber auch unglaublich arbeitsintensive Zeit. Es gab einzigartige Erlebnisse, die besondere Bindungen schaffen.  

Und auch das langfristige Bestehen des Museums ist schon etwas Besonderes. Durch die Bürgerinitiative und durch große ehrenamtliche Leistung von ganz vielen Personen konnte es gelingen. Zwick mich mal. 

  • Was war die Motivation für die Arbeit und was bewegte bzw. motivierte Sie trotz der Widerstände weiter zu machen?
  1. Ich (Elisabeth Cosanne-Schulte-Huxel) habe 1980 mit meinem Mann eine Rucksack -Reise durch Israel gemacht . An dem Thema Juden war ich noch nicht so sehr interessiert, Israel war damals sehr trendy. Wir hatten eine Adresse in einem Kibbutz bekommen, wo wir Josef Moises Grüße aus Wulfen ausrichten sollten. Wir kommen in diesem Kibbutz und treffen Josef Moises auf der Straße. Er bringt uns ins Haus und werden einen ganzen Tag von ihm beköstigt. Er zeigt uns Stolz seine Orangenplantage. Aber was mich wirklich emotional berührt hat, war sein großes Heimweh nach Wulfen. Er hat in seinem Haus einen Schrank nur mit Andenken aus Wulfen und Zeitschriften, die ihm von Wulfenern geschickt wurden. 

Josef Moises war 1938 mit Frau und Mutter nach Israel emigriert. Sie können die Geschichte im Band 1 nachlesen.

Ich habe mit ihm dann jeden Monat korrespondiert. Und bei Gründung der Forschungsgruppe konnte ich die Lebensgeschichte von Josef Moises einbringen.

Josef Moises war selber sehr interessiert an der Aufarbeitung und Veröffentlichung. Er hat uns aus Israel Geld zur Unterstützung gestützt.

  • 1984 begab ich mich auf Spurensuche nach einer jüdischen Familie in Lembeck. Da ich selber dort aufgewachsen bin und nichts über diese Familie jemals gehört hatte, war meine Neugier entfacht. Meine erste Spur führte mich nach Düsseldorf, dann später auch in die USA. 1985 habe ich mich mit Rudy Katz, ein Verwandter der Familie Lebenstein aus Lembeck, in den USA getroffen. Sein Sohn, ein Journalist, besuchte uns dann hier Dorsten. Seitdem haben wir sehr guten freundschaftlichen Kontakt mit der Familie und es ist bis heute immer wieder spannend neue Details für die Familie herauszufinden. Gerade schreibt Jeffrey Katz ein Buch über seine Familie in Deutschland.
  • Dann machte mir die Recherchearbeit sehr viel Spaß, was ich noch heute viel mache. 

Ergänzung Anke: Ich habe zu dieser Zeit Geschichte in Trier studiert. Mein besonderes Interesse galt der NS-Zeit, und dass ich die Möglichkeit bekam, diese Zeit in meiner eigenen Heimatstadt Dorsten zu erforschen, hatte ihren besonderen Reiz. Ich habe dann auch meine Magisterarbeit über ein lokalhistorisches Kapitel – Dorsten zur Zeit der Weimarer Republik – geschrieben. Denn „Weimar“ ist die wichtige Vorgeschichte zur Entstehung des Nationalsozialismus.

  • Wie waren die Gespräche mit den Zeitzeugen?

Gespräche mit Zeitzeugen sind für mich immer sehr aufregend und auch beklemmend. Ich habe in den USA und in Israel erlebt, dass man mit mir nicht sprechen wollte oder die Hand geben, weil ich eine Deutsche war.  Aber es gab auch andere Zeitzeugengespräche. Zum Beispiel Elise Hallin-Reifeisen in Stockholm. Mir ihr habe ich erst 2008 den ersten Kontakt hergestellt. Sie war sehr froh über unsere Arbeit und hat uns sehr viel Material zur Verfügung gestellt.

Ergänzung Anke: Für mich waren die Gespräche auch sehr bewegend. Ich erinnere mich an ein Gespräch mit einer Jüdin, die den Holocaust überlebt hat. Als mir während ihrer Erzählungen plötzlich die Tränen in die Augen schossen, legte sie ihre Hand beruhigend auf meinen Arm und sagte tröstend: „Sie können nichts dafür!“

  • Denken Sie, dass Aufklärungsarbeit heute genauso wichtig wie früher?

Auch heute ist es noch genauso wichtig wie früher. Wenn ich die vielen Fake-News  lese wird mir ganz schlecht.

Ergänzung Anke: Dass Aufklärungsarbeit weiterhin nottut, sieht man daran, dass Antisemitismus, Intoleranz und Fremdenfeindlichkeit weiter zunehmend. Erschreckend, dass wir auch heute noch kaum einen Schritt weitergekommen sind.

  • Worauf sind Sie besonders stolz?

Zum einen, dass die damalige kleine Forschungsgruppe gegen alle Widerstände das Jüdische Museum Westfalen eröffnen konnte. Und zum anderen sehr stolz, dass wir 30 Jahre durchgehalten haben.

Es war nicht immer leicht, das nötige Geld zu beschaffen und anderen Widerständen zu trotzen. Aber wir haben diesen „Marathon“ von 30 – 40 Jahren durchgehalten.

  • Wie lief der Prozess zur Gründung des Jüdischen Museums ab?

Schon oben im Eingang erklärt.

  • Was war die allgemeine Reaktion, die Sie von der Stadt, den Bürgern, etc. erhalten haben?

Nicht alle Dorstener wollten die jüdische Geschichte dokumentiert sehen. 

Meistens gab es positive Zustimmung, aber auch schon mal Desinteresse mit den Worten, es ist genug. Ich möchte das Thema jetzt nicht mehr hören. Es gab auch Telefondrohungen in den ersten Jahren, damit ich nicht weiter forsche.

Aber dies konnte uns nicht einschüchtern, gerade Widerstände fordern eine enorme Kraft heraus. 

  1. Was war die größte Hürde bei der Arbeit der Initiative? Z.B. Dokumentenbeschaffung, Widerstand, Geld…?

Die Forschungsgruppe war klein, alle hatten noch ein Job und vieles musste nebenbei passieren. 

Es gab noch nicht das Internet. Archivarbeit nahm sehr viel Zeit in Anspruch. Auch waren nicht alle Archive geöffnet. Heute ist durch das Internet vieles einfacher und möglich. Und oft fehlte das Geld. Wir haben zum Beispiel jedes Jahr ein Fußball-Turnier durchgeführt, um ein Exponat anschaffen zu können. Erst im vergangenen Jahr bekam das Museum eine hauptamtliche Stelle für die Leitung, die nun Frau Dr. Pieren bekleidet. Bis dahin haben das Sr. Johanna Eichmann und danach Dr. Norbert Reichling ehrenamtlich, neben ihrem Vollzeit-Beruf, gemacht. Auch die Geschäftsführung wurde viele Jahre von Gisela Brückner ehrenamtlich gestemmt. Die größte Hürde war der ständige Kampf um die Finanzierung zur Absicherung.  

  1. Wie haben Sie sich bei der Eröffnung des Jüdischen Museums gefühlt? Was es ein Gefühl von Stolz?

Ja, Stolz war dabei. Aber auch das Wagnis, ein Museum aufzubauen ohne zu wissen, wie geht es weiter. Die meiste Arbeit haben wir in den letzten Jahren damit verbracht, Geld zu beschaffen, für Personal, für Ausstellungen und vieles mehr.  Aber wir feiern in diesem Jahr das 30jährige Bestehen des Museums. 

  1. Welche Arbeit wird heute noch fortgesetzt? Stehen Sie noch mit dem Verein für jüdische Geschichte und Religion oder dem Jüdischen Museum in Kontakt?

Ich war in den Anfängen der Forschungsgruppe dabei, war Gründungsmitglied des Vereins, Gründungsmitglied des Museums und bin seit 30 Jahren in verschiedenen Positionen im Vorstand.

Ich forsche immer noch, jetzt zum Beispiel über die Dorstener jüdische Familie Eisendrath, die im letzten Jahrhundert in die USA ausgewandert ist.

Ergänzung Anke: Ich habe anfangs noch im Vorstand mitgearbeitet, dann habe ich es zeitlich nicht mehr mit meiner Berufstätigkeit vereinbaren können. Als Journalistin habe ich die Arbeit des Hauses stets „medientechnisch“ begleitet. Auch habe ich von Anfang an – bis vor ca. drei Jahren  – an der Vereinszeitschrift „Schalom“ mitgearbeitet.

Dorsten, März 2022